Stillen ist nicht kinderleicht!
Nun ist sie vorbei, die deutsche Weltstillwoche 2022. Jedes Jahr in der 40. Kalenderwoche findet sie statt – zumindest in Deutschland. Die internationale World Breastfeeding Week ging schon im Sommer über die Bühne. Das Thema im Original: Step up for breastfeeding – educate and support. Ins deutsche übersetzt wurde das Thema, nunja, sehr frei: eine Handvoll Wissen (reicht). So richtig und meiner Meinung nach wohlgewählt die ursprüngliche Message war, so unglücklich ist die deutsche Variante. Weshalb ich das denke:
Die nähere Beschreibung der Original-Variante lautet wie folgt:
„WBW2022 konzentriert sich auf die Stärkung der Kapazitäten von Akteuren, die das Stillen auf verschiedenen Ebenen der Gesellschaft schützen, fördern und unterstützen müssen. Diese Akteure bilden die warme Unterstützungskette für das Stillen. Zielgruppen wie Regierungen, Gesundheitssysteme, Arbeitsplätze und Gemeinschaften werden informiert, aufgeklärt und befähigt, ihre Fähigkeit zu stärken, stillfreundliche Umgebungen für Familien in der Welt nach der Pandemie bereitzustellen und aufrechtzuerhalten. https://worldbreastfeedingweek.org/„
So weit, so gut. Genau das trifft die Stillförderung in ihrem tiefsten Kern. Aufklärung auf allen Ebenen, sodass die diversen Stolpersteine unserer modernen und stillunfreundlichen Gesellschaft aus dem Weg geräumt werden können. Am besten gar nicht erst entstehen. Denn von diesen Stolpersteinen gibt es viele, ja unzählige. Das Thema greift dabei etwas essentielles und wesentliches auf: der „Stillerfolg“ – schreckliches Wort, nutze ich hier nun bewusst provokativ – hängt fast schon am wenigsten von der Mutter und dem Kind selbst ab, sondern von deren Umgebung. Eine Erkenntnis, die wegweisend ist, für die Familien und auch für uns, die „Stillförderer“. Die deutsche Variante zäumt das Pferd von hinten auf: „eine Handvoll Wissen“ soll das Motto sein und den Stillweg ebnen. Dabei wird eher offen gelassen, wer sich denn nun dieses Wissen aneignen soll. Die Abbildung mit Text – welche genutzt aber nicht modifiziert werden darf – suggeriert eher: Mutter, dieses Wissen ist für dich. Nutze es, und du kannst stillen. Eine Handvoll Wissen – das reicht schon. Tatsächlich wurde das „reicht“ von vielen noch hintenan geschoben. Und da sind wir schon beim nächsten Problem: die Umsetzung des Themas engt ein (durch den vorgegebenen Text in der Grafik) und gibt zugleich zu viel Spielraum für Missinterpretation und Suggestion.
Mir ist klar: das Thema ist durchaus gut gemeint! Und auch nicht gänzlich daneben. Ich stimme völlig darin überein, dass schon ein gewisses Basiswissen viel ausmachen kann. Dass Grundlagen – wenn sie denn auch jeder verinnerlichen würde – sehr vielen Schwierigkeiten vorbeugen könnte. Würde sämtliches Personal, das Kontakt zu jungen Familien hat, mit einigen Grundbausteinen gerüstet sein, dann würde auch viel weniger Unsinn weiter in Umlauf gebracht. Und irgendwo muss man ja auch anfangen. Da wären wir aber viel eher wieder beim Ursprungsthema: step up and educate! In dieser Botschaft schwingt deutlicher mit, dass damit nicht nur die Mutter allein gemeint ist. Dass die Verantwortung NICHT bei ihr allein liegt, sondern bei Ärzten, Hebammen, Arbeitgeber, Politik und Co. Die deutsche Weltstillwoche schließt das nicht aus, richtet sich aber auch in der Ausführung höchstens an Geburtskliniken, hauptsächlich aber an die Mutter selbst. Die eigentlich adressierte Zielgruppe wird somit weitestgehend verfehlt.
Mehr noch: wenn es dann mit dem Stillen nicht so klappt, tja dann hat die Mutter wohl versagt. Obwohl doch schon ein bisschen Wissen „reicht“. So ist es ursprünglich nicht gemeint, das ist mir bewusst. Aber so kommt es an! Worte haben Macht. Und „eine Handvoll Wissen (reicht)“ bedeutet für viele nicht: „Lass uns fruchtbare Saat auswerfen, auf das sie wachse und gedeihe“, und auch nicht „die Handvoll Wissen ist besser als nichts, ist vielmehr der Anfang von noch viel mehr“. Nein. Bei den Frauen – und die fühlen sich bei der Formulierung und Umsetzung nun einmal angesprochen – kommt an: Wenn es bei dir nicht klappt, dann bist du selbst Schuld und zu beschränkt für das bisschen Wissen-. Es ist doch so einfach, aber du hast versagt. Falsch. Falsch, falsch, falsch!
Es ist im Umgang mit Familien, vor allem wenn es um das Thema Stillen geht, elementar wichtig, auf unsere Wortwahl zu achten. Stillen und Laktation – das ist ein wahnsinnig umfangreicher und wissenschaftlicher Fachbereich, mit gleichsam intensiv emotionaler Bedeutung. Diese Tatsache hat in der Vergangenheit schon zu einigen Missverständnissen, oder vielmehr grandios fehlgeschlagener Kommunikation geführt. Und ich kann es so gut verstehen! Ich kann KollegInnen so, so gut verstehen, die für die Forschung brennen! Die mit Feuereifer voranschreiten. Auch ich komme immer wieder so richtig in Fahrt und es ist harte Arbeit, mich dann wohlbedacht auszudrücken. Formula zum Beispiel, wurde von einem serösen und von mir geschätzen Professor als Körperverletzung in einem seiner Vorträge angeteasert. Warum? Weil er im Bereich epigenetischer Programmierung durch Muttermilch unglaublich spannende und faszinierende Dinge herausgefunden hat. Muttermilch ist so viel mehr als Ernährung. Sie ist der längere Arm von Befruchtung und Embryonaler Entwicklung und steuert artspezifisch die menschliche Programmierung der Gene, des Immunsystems, des Wachstums. Fantastisch. In Verbindung mit der rücksichtslosen Vermarktung von Muttermilchersatzprodukten kann man schon mal überschwänglich werden. Und richtig richtig sauer auf die Industrie und tatenlose Politik. Und so rutschte dem Herrn das Wort „Körperverletzung“ heraus. Schriftlich leider. Und öffentlich. Gemeint waren NICHT die Familien, die zu Pre greifen, sondern alle anderen Drumherum. Die Verantwortlichen Player, die uns zu einer stillunfreundlichen Gesellschaft machen. Es kam aber nicht so an. Und das war ein riesiges Problem! Ja es befeuerte das Vorurteil: StillberaterInnen sind Stillnazis.
Warum jetzt diese Anekdote? Weil gut gemeint nicht gleich auch gut gemacht ist. Worte formen Bewusstsein. Worte können schärfer sein als die geschliffenste Klinge. Und wir müssen in der Kommunikation mit den Familien und der Öffentlichkeit tatsächlich – so schwer das auch ist – jedes Wort genau überprüfen. Das ist eine meiner größten persönlichen Lehren der letzten Jahre. Und wer mich kennt, weiß: ich rede eigentlich immer Freischnauze. Das Beispiel zeigt aber, dass unbedachte Formulierungen unser Ziel torpedieren. Die eigentliche Message sogar ins Gegenteil verkehren können. Ist das eine große Verantwortung? Ja. Ist das scheiße schwer? Ja! Verlange ich sehr viel von StillförderInnen? Ja. Ist es nötig: Ich finde: ja, unbedingt. Es ist mindestens genauso wichtig wie wir etwas sagen, wie das was wir sagen. Ich erinnere an den Terminus „Stillerfolg“. Das triggert, oder? War mit Sicherheit für die ein oder andere nicht schön zu lesen. Hätte direkt zu einer ablehnenden Haltung führen können. Worte haben macht, drum wähle mit Bedacht.
Lange Rede: die Wortwahl suggeriert zu viel. Lässt zu viel Interpretationsraum offen, was Adressat und Bedeutung betrifft. Sicher, es gab so einige KollegInnen, die alles rausgeholt haben, was nur ging. Die in ihren Texten und Co diesen Raum gut und sicher gefüllt haben. Daher bitte: das hier ist kein Weltstillwochen-Bashing! Das Motto hat jedoch etwas losgetreten. Hat diese Themen hier für viele sichtbar gemacht.
Warum habe ich dann nicht die Chance genutzt, und das beste rausgeholt? Weil die Grafik mit festem Text mich eingeengt hat. Die Beiträge doppelten und dreifachten sich in Inhalt und Aufmachung. Und der Satz „Stillen ist von der Natur vorgesehen“ bereitet mir bei all meiner Liebe für die Stillberatung und -förderung Bauchschmerzen. Da sind wir wieder bei der Macht der Worte. Was löst diese Formulierung bei Frauen aus, die unfreiwillig abstillen mussten? Die mit sich hadern? Die Natur hat keinen Willen. Sie sieht nichts vor. Muttermilch ist ein Teil unserer menschlichen Entwicklung. Ist unnachahmlich. Aber uff. Selbst ich, die so so sehr hinter dem Stillen steht, habe mit dem Satz so wie er formuliert ist, Schwierigkeiten.
Auch die fünf Wissensaspekte an sich – nein sie reichen mir nicht aus. Diese fünf Dinge, sie reichen finde ich nicht aus, um Stillschwierigkeiten wirklich vorzubeugen. Erst recht nicht, um ihnen zu begegnen. Auch als Grundlagenwissen: zu wenig. Kann man anders sehen, das hier ist meine persönlich-fachliche Meinung, die sich aus den Erfahrungen meiner Arbeit speist. Sowohl Fachpersonal als auch die Familien selbst brauchen mehr als das. Wenn man das so kristallklar kommuniziert hätte. In das Motto integriert hätte, ja dann…Aber so: zu unterkomplex. Jaa, Wissen sollten möglichst einfach und verständlich kommuniziert werden. Aber bei fünf Fakten muss klar sein: das ist nicht genug. Dinge einfach erklären und Dinge einfach weglassen, sind zwei unterschiedliche Paar Schuhe.
Vor allem fehlt mir eines: Stillen kann schwierig sein. Und es ist eine gemeinschaftliche Aufgabe. Stillen braucht Unterstützung. Stillen. Braucht. Unterstützung. Tatkräftig und auf emotionaler Ebene. Stillen ist nicht immer easy peasy. Stillen kann schwierig, schmerzhaft, stressig sein. Vor allem ursächlich wenn diese Unterstützung fehlt. Ich wiederhole: fehlende, fachlich korrekte, evidente und liebevolle Unterstützung ist ein Problem! Kernmessage. Das hier ist die Kernmessage. Aus dem Grund ist die Originalvariante so viel besser:
Das Umfeld der Mutter, bestehend aus Fachpersonal, Arbeitgeber, Politiker, Medien unterschiedlichster Art, Industrie und Wirtschaft, die Mitmenschen, die Familie – sie brauchen Wissen. Sie sind es, die die Hürden aufstellen. Sie sind es, die wir informieren müssen. Dann wird die Muttermilch auch sehr viel öfter zum Selbstläufer. Wenn nicht allenthalben einer der oben genannten die Mutter aus der Bahn kickt. Wenn das Stillen nicht funktioniert, dann ist NICHT DIE MUTTER SCHULD. Aber alle anderen. Ich habe allein in den letzten Tagen so viel Bullshit auf social media gesehen – haarsträubende Werbung unter dem Deckmantel der Weltstillwoche zum Beispiel – dass ich schon gar nicht mehr weiß, in welche Wand ich als nächstes meinen Kopf knallen soll. Ja, da ist sie, meine freie Schnauze.
Eine Handvoll Wissen reicht nicht aus. Es reicht nicht aus, um dem Lobbyismus einen Riegel vorzuschieben. Sie reicht nicht aus, um Personal zu schulen. Sie reicht nicht aus, um Familien vor unsäglich fachlich falscher Werbung zu schützen. Sie reicht nicht aus, um gegen den Einfluss von Schwester Agatha, Tante Hilde und dem Idioten von schräg gegenüber zu begegnen. Sie ist ein Anfang, ein wertvoller. Aber bitte, formuliert es öffentlich genau so.
Zuletzt noch zwei Dinge: Muttermilch ist fantastisch. Sie hat spannende, faszinierende Effekte auf die kindliche Entwicklung. Das kann so stehen bleiben, ganz neutral. Sie hat nichts mit Mutterliebe in dem Sinne zu tun. Und es ist kein Widerspruch, mit aller Kraft das Wissen um die vielen Auswirkungen und Potential der Muttermilchernährung zu verbreiten. Und gleichzeitig die individuelle Familie auf ihrem Weg zu begleiten – auch beim Abstillen, in welchem Alter auch immer. Ich muss das Stillen mit Formula oder das Füttern von Muttermilch mit der Flasche nicht verteidigen, indem ich so tue, als sei Muttermilch und Pre fast das gleiche. Das ist der falsche Weg, denn es ist Desinformation. Stillförderung und Abstillberatung/Formulaberatung schließen sich nicht aus. Sie können friedlich Co-existieren. Es fließen schlicht gezielt und auf die Situation gemünzte Informationen. So funktioniert Stillberatung: gezieltes Wissen, nicht mit der Gießkanne random Fakten über die Familie schütten. Vor allem: die Mutter im Muttersein bestärken. Stillberatung und Formulaberatung ist emotionale Arbeit. Sie braucht Zeit und offene Ohren. Undogmatisch, und den Wünschen und Bedürfnissen der Familie folgend.
Das führt uns zum letzten Punkt: Stillberatung ist komplex. Der Fachbereich Stillen und Laktation ist umfangreich und höchst wissenschaftlich. Leider wird in unserer Gesellschaft noch ein viel zu unterkomplexes Bild der Stillberaterin gezeichnet. Tatsächlich erfordert es sehr, sehr viel Hintergrundwissen. Und spezielles Wissen: Embryologie, Physiologie, Anatomie, Bio-Chemie, Immunologie, Pharmakologie, Dermatologie, Psychologie, Kommunikation – Still- und Laktationsberatung sieht einfach aus. Ist aber genau genommen ein medizinischer Beruf, der gleichzeitig viel Praxiserfahrung und emotionale Stabilität erfordert. Nicht nur das Stillen muss gefördert werden, sondern auch der Stand von uns StillberaterInnen. Das fängt schon mit der erstaunlichen Ignoranz der Krankenkassen an, die bisher sämtliche Evidenzen über die preiswerteste Präventivmaßnahme überhaupt in den Wind schlägt. Das ist aber ein Fass, das an anderer Stelle geöffnet werden möchte. Was ich sagen will: Eine Handvoll Wissen wird unserem Beruf nicht gerecht. Step up for breastfeeding: educate and support. Genau das habe ich in den letzten Wochen getan, und werde den Rest meines Lebens diesem Motto widmen: Wissen aufbereiten, ausbilden, und aufklären. Wenn’s sein muss auch mal freischnauze.