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Jahresrückblick 2021 bei unterm-dreck-ists-sauber

Long Time, No Read. Sorry, aber das Jahr hat hier so richtig reingehauen. Ganz kurz passt folgende Beschreibung:

Wenn du denkst, du kannst nicht mehr, kommt von irgendwo ein neuer Scheiß daher.

Oder auch:

Schlimmer geht immer!

Ich versuche mich kurz zu fassen, denn es gibt noch so einiges nachzuerzählen.

Januar

Ich bin im 8. Monat schwanger mit Mr. Baby und habe über ein Jahr Zahn-Kiefer-Nervenschmerzen hinter mir. Nachdem mich unzählige Ärzte nicht ernst genommen haben, gehe ich entgegen zahnärztlicher Meinung zum Kieferorthopäden und darf 5.000€ berappen, um einen Backenzahn zurück von der Schiefen Bahn zu holen. Ein Jahr soll es ca. dauern. Spoiler: es dauert wesentlich länger. Außerdem ackere ich wie ein Pferd und schnaufe wie ein alter Gaul, weil Mr. Baby mir einen besonders großen Schwangerschaftsbauch und eine sehr lockerflockige Symphyse beschert.

Februar

Ich ackere weiter und schnaufe. Und gebe mich dem Nestbautrieb hin. Wir testen den Geburtspool für die anstehende Hausgeburt. Kaufen Vlies und was man noch alles so braucht – und verlieren die Nerven. Noch gibt es keine für uns verfügbaren Coronatests und auch keine Impfung. Ständig habe ich Angst, dass sich irgendwer ansteckt und ich (allein) zur Geburt in die Klinik muss. Auf den letzten Metern besuche ich noch ein paar Online Seminare und Tagungen.

März

Ich bin noch immer schwanger. So lange sind Leo und Ella nicht im Bauch gewesen. Ich habe keine Lust mehr. Seit Wochen wehe ich vor mich hin, wie bei Ella täglich mehrere Stunden und regelmäßig. Einmal baut Pascal den Pool auf, doch Mr. Baby überlegt es sich anders. Und kommt drei Tage später am 15.03. zuhause im Wasser im Kreise der Familie auf die Welt. Die Kinder sind schockverliebt und begrüßen ihren Bruder mit Begeisterung. Wir kuscheln auf der Couch und ich erhole mich von der Anstrengung. Mr. Baby ist wesentlich größer und schwerer als seine Geschwister. Uff! Dafür muss ich nirgendwo hin und genieße nach einer Dusche die heißersehnte Salamiiiiiiii!

Bis heute habe ich den Geburtsbericht noch nicht geschrieben. Kommt aber noch. Versprochen.

April

Leo bekommt die Zusage für die Einschulung. Wir freuen uns….

Pascal darf sich impfen lassen, ich Ende April ebenfalls. Wir sind dankbar und erleichtert. Außerdem bin ich mit dabei beim AFS Online Kongress und darf über mein Herzensthema, das Kleinkindstillen, referieren. Hachz…

Mai

Ich arbeite den ganzen Monat an der Covid-19 Fortbildung. Mr. Baby wächst und gedeiht. Ich muss feststellen, wie erschreckend viele unverschämte und extreme Menschen es gibt. Mein Fell wächst auch.

Juni

Ich halte mehrere Forbildungen. Pascal und ich bekommen unsere zweite Impfung. Ich fühle mich eine Nacht lang so krank wie noch nie in meinem Leben und will nicht wissen, was das ganze Virus mit meinem Immunsystem anstellen würde. Pascal wird 40 und Ella fünf – wir feiern ganz klein, aber schön.

Juli

Wir vergessen unseren ersten Hochzeitstag und freuen uns, immer schön getestet wieder die Verwandtschaft etwas öfter besuchen zu können. Außerdem mache ich die erfreuliche Erfahrung einer Erstklässlermama und kaufe Dinge, von deren Existenz ich bisher nichts wusste. Seltsame Pastell-Öl-Kreiden ganz bestimmter Marken zum Beispiel. Der Blick auf die Inzidenzen in Köln macht uns Bauchschmerzen. Wir kontaktieren hoffnungsvoll unsere Schulleitung.

In unserem Umkreis sorgt der Klimawandel zu krassen Überschwemmungen in Ahrweiler und einigen anderen Orten. Ich bin erschüttert. Wegen der Schicksale, aber auch weil das nur die Spitze des Eisberges ist. Climate Change ist kein Witz, und ich mache mir viele Gedanken um die Zukunft. Anke von Lächeln und Winken auch. Wir nutzen unsere Energie und Reichweite und in Zusammenarbeit mit euch allen können wir im engen Kontakt mit den Menschen vor Ort dringend und speziell benötigte Spenden im Wert von einigen Tausend € liefern.

August

Pascal hat einen freien Männerabend bei seinem besten Freund. Und Leo wird eingeschult. Das Drama nimmt seinen Lauf.

Außerdem warte ich wochenlang vergeblich auf die Terminbestätigung für das IBCLC Examen. Ich weiß weder wann, noch wo ich schreiben werde. Ich springe im Dreieck.

September

Einen Tag nach meinem eigentlichen Examenstermin und nach tagelangem täglichen Telefonieren erfahre ich, dass ich am übernächsten Tag mein Examen in Frankfurt antreten muss. Ich habe starke Reiseübelkeit, hasse Autofahren und Mr. Baby ebenfalls. Hilft alles nix. Angekommen, werde ich ganzkörperuntersucht – incl. Brille – und bin nach 2 von 4 Stunden fertig. War einfach. Anders als die Heimfahrt. Mitten im Platzregen mit 0 Sichtweite macht es Knall und wir haben drölwzig Schutzengel, die uns unfallfrei von der Autobahn runterfahren lassen. Dort warten wir einige Stunden zu fünft im Auto. Der ADAC darf nur Pascal mitnehmen (C sein Dank). Der Rest von uns wird von meinem Schwiegervater eingesammelt. Am Abend denke ich: boah schlimmer geht nicht mehr. Doch. Geht.

Leo lernt zuhause. Unsere SL findet das trotz all unserer Erklärungen, Argumente und Co … … … äh… nun sie hat eine andere Meinung und teilt diese überdeutlich dem Schulamt mit. Das hat auch eine …. solche Meinung. Wir bekommen eine Zwangsgeldandrohung a 2.500€ pro Elternkopf. Normal sind Bußgelder mit ca. 150-300€. Wir werden aber nicht „normal“ behandelt, sondern mit besonderer Härte. Das werden wir noch spüren. Wir nehmen einen Anwalt. Drama ongoing. Die Inzidenzen explodieren.

Ich lerne eine ganz tolle Frau und und Freundin kennen. Zusammen mit ein paar wenigen anderen, rettet mir diese Frau emotional den Hals. Liebe S. und liebe M., ihr seid gemeint. Außerdem hilft mir Anke wieder und veröffentlicht auf ihrem Blog ein Interview mit mir. Es tut gut, auch bei unterschiedlicher Handlungsweise einander zu verstehen.

Oktober

Die Inzidenzen…Leo lernt weiter zuhause und hat Geburtstag. Wir feiern bei meinen Eltern. Im Nachhinein das Beste, das wir tun konnten. Wir verlieren das Eilverfahren in erster Instanz, wechseln aus eklatanten Gründen den Anwalt und kommen bei Thorsten Frühmark unter. Fachlich und menschlich ein himmelweiter Unterschied. Das erste Mal fühle ich mich nun gut vertreten. Wir legen Widerspruch ein. Leo wird der Zugang zum Online Lernen verwehrt, das eigentlich jedem Kind auf der Schule dort zusteht und genutzt wird für Quarantänefälle.

Ella bricht sich den Arm beim „vom Bett fallen“. Kein Witz. Ich erlebe einen „gleich kotze ich vor Angst“ Moment, als ich sofort realisiere, dass ihr Unterarm definitiv gebrochen ist. Der Knick gehört da eindeutig nicht hin und ich fühle mich in die Szene von Harry Potter hineinversetzt, in der Prof. Lockhart ihm sämtliche Knochen aus dem Arm zaubert. Genau so fühlt es sich an. Ich kotze nicht, sondern rufe Pascal an, während Mr. Baby brüllt, ich Ellas Arm so gut es geht, stabilisiere und einen Rucksack packe. Es folgt ein Tag voller warten. Warten auf Nachrichten von Pascal. Warten auf die genauen Ergebnisse (beide Knochen gebrochen und disloziert), Warten auf die Aussage: OP muss sein. Warten auf „sie ist jetzt im OP“. Ewigkeiten warten auf „sie ist fertig“. Die OP hat sehr viel länger gedauert. Es ist später Abend, wir telefonieren kurz und ich vermisse mein Kind. Es tut mir weh, sie so abgeschossen zu sehen. Abgesehen von der OP braucht sie keine Schmerzmittel, auch zuhause nicht. Aber der Gips nervt. Schlimmer geht nicht, denke ich. Doch, es geht schlimmer.

November

Wir müssen Ella bei der Schule anmelden. Am Tag des Vorstellungsgesprächs wird mal wieder eine Weltkriegsbombe gefunden. Sowohl die Schule, als auch wir müssen evakuiert werden. Wir fahren zu meinen Eltern und basteln dort Laternen, machen im Wald einen kleinen Martinszug als Familie und dürfen abends wieder heim. Mein Papa begleitet uns zum Auto und sagt mir, dass er stolz auf mich ist. Wie ich mich für meine Kinder einsetze.

Ich werde Tante.

Pascal und ich werden geboostert. Ich muss dafür zwei Stunden anstehen und mit zwei Ärzten diskutieren. In der folgenden Nacht haut es mich wieder um, doch ich bin dankbar. Dann kommt Omicron. Scheiße. Pascal arbeitet außerdem auf der ITS und kommt heulend heim. Schlimmer geht nicht, denke ich. Doch, es geht schlimmer.

Dezember

Wir kaufen wie letztes Jahr sehr früh den Weihnachtsbaum. Naja, diesmal geht Pascal allein. Ich brauche ganz dringend eine schöne Adventszeit und die Vorfreude auf Weihnachten.

Wir schauen einen lustigen Weihnachtsfilm. Mein Handy ist lautlos. Pascals Handy klingelt. Meine Mama ruft an. Ich weiß sofort, dass es schlimm ist. Wir sollen warten. Ich mache schnell überbackene Brötchen. Mama ruft wieder an. Wir steigen alle ins Auto und geben Gas. In meinem Kopf tobende Stille. Am Empfang stottere ich vor mich hin, trage mich ein. Verlaufe mich und begegne Mama und meinem Bruder. Wir sollen draußen nochmal warten. Man kämpft. Wir warten. 40 Minuten später klingelt es. Wir gehen rein. Ich finde mich wieder ein einer Szene wieder. Die, in der die Angehörigen in zähen und sich ziehenden Sekunden auf die Worte warten, die kommen müssen. Eingeleitet mit „wir haben alles getan, was möglich war“. Sag doch halt einfach, lass uns nicht zappeln. Papa ist tot. Plötzlich. Unvermittelt. Unerwartet und mitten aus dem Leben heraus.

Wir drei dürfen zu ihm. Die Kinder sollen nicht mit rein, wird mir empfohlen. Man sähe ihm den Kampf an. Tatsächlich sieh er ganz friedlich aus. Ich zeige ihm das Bild, das Leo gemalt hat. Die Zeit ist irgendwie stehen geblieben und ich bin in einer Parallelwelt gefangen. Da liegt er. Sieht aus wie er. Riecht wie er. Ist noch warm. Ist irgendwie noch da, und gleichzeitig für immer fort. Ich spreche mit ihm. Wir fahren heim. Watte im Kopf. In der Nacht schlafe ich nicht. Schreie und brülle, schimpfe und wüte in Pascals Armen. Papa.

Zwei Tage später verlieren wir unsere Klage in zweiter Instanz. Zu wenig Kinder kommen akut mit Covid ins Krankenhaus. Schuldgebäudeanwesenheitspflicht is the king. Die Klassen gehen derweil gemeinsam ins Kino.

Wir entscheiden uns für eine Beerdigung mit offenem Sarg. Die Kinder malen Bilder, jeder legt einen Gegenstand mit Geschichte zu ihm. Die Kids sind ganz unbefangen. Wir streicheln seinen Arm, nehmen Abschied. Es ist gut und für uns wichtig, ihn zu sehen. Zu sehen, dass er seinen Körper verlassen hat. Ich habe einige Abschiedsworte geschrieben, und schaffe es, sie während der Messe vorzulesen. Ich schwebe in einem Zustand zwischen Akzeptanz und Leugnen. Kann schlecht loslassen.

Ich bekomme die Examensergebnisse: bestanden. Sogar ziemlich gut.

Wir feiern Weihnachten und Silvester bei meiner Mama und meinem Bruder. Am 27.12. flattert erneut die Zwangsgeldandrohung ins Haus. Da haben Schulleitung und Schulamt keine Zeit verloren. 2.500€ pro Elternkopf (oder Beugehaft), wenn das Kind nicht sofort in die Schule gebracht wird. Gleich mit dabei die Ankündigung eines nächsten Zwangsgeldes, das bei Zuwiderhandlung auf dem Fuße folgt: 10.000€. Das ist nicht Usus. Dafür kann man 6x einen Polzisten schlagen, oder 30x sein Kind wissentlich mit Covid in die Schule bringen. Verhältnismäßigkeit, you know. Wir werden uns wehren. Im Namen aller Eltern. Schlimmer geht nicht mehr? Ich werde berichten. Wer uns unterstützen mag: hier geht es zur Spendenkampange. Happy New Year!

2 Gedanken zu „Jahresrückblick 2021 bei unterm-dreck-ists-sauber“

  1. ❤❤❤
    Es tut mir so leid, dass du so ein schweres Jahr hattest und dann noch diesen furchtbaren Verlust am Jahresende. 😭 Nochmals herzliches Beileid. Ich wünsche dir von Herzen alles Gute für das neue Jahr! Du bist so eine starke und beeindruckende Person.
    PS. Als Juristin kann ich mir sehr gut vorstellen, was in der Urteilsbegründung steht, aber ich finde das Ergebnis in der Sache mehr als bedauerlich.

  2. Liebe Alexandra,
    Still lese ich schon länger mit, bestimmt drei Jahre. Auch ich habe mir viele Gedanken gemacht über die Stille im Blog – dass wahrscheinlich das reale Leben alle Kräfte fordert. Verständlich bei drei kleinen Kindern, verständlich in der Pandemie… Deinen Jahresrückblick zu lesen – es schnürt mir tatsächlich das Herz zu. Worte zu finden fällt mir schwer. Mein aufrichtiges Mitgefühl, und meine besten Wünsche für das neue Jahr möchte ich senden. Kraft, Hoffnung und die Möglichkeit zu Trauern. Ich wünsche dir und deiner Familie Zusammenhalt und Gesundheit. Drücke euch für euren Weg fest die Daumen. Es ist eine unfassbare Zeit denke ich oft, und woher die Kraft noch nehmen wenn man nach diesen zwei Jahren mental sowieso schon nur noch die Reste zusammenkratzen kann. Ich hoffe weiter und wünsche auch dir die Fähigkeit das Vertrauen ins Leben nicht zu verlieren. Liebe Grüße Elisabeth

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