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Kolostrum gewinnen

Allergieprävention: Die aktuelle S3 Leitlinie und ihr Rattenschwanz

  • Alexandra 
  • 8 min read

Einige von euch erinnern sich bestimmt noch an die AWMF 3 Leitlinie zur Allergieprävention. In der im November 2022 aktualisierten Variante wurden einige Studien „neu“ ausgewertet und Empfehlungen geändert.

Ein Überblick:

1. Aktuell wird in dieser keine HA – also „hypoallergene“ Nahrung mehr empfohlen – wegen mangelnder Belege eines Vorteils (schmeckt auch bitter by the way). So weit so ok.

2. Wenn eine Zufütterung in den ersten Tagen notwendig wird – bei unzureichender Zunahme zum Beispiel (-10% in den ersten Tagen) soll am besten keine kuhmilchbasierte Formula gegeben werden. Dieser „ungeschützte Erstkontakt mit dann längerer Expositionspause“ könnte eine mögliche Allergie begünstigen.

3. Wird bei einer nötigen Zufütterung Aminosäure-Mischungen oder extensiv hydrolysierte Formula empfohlen. Bedeutet: die Eiweiße sind ihre Bestandteile aufgedröselt (Aminosäuren). In der Theorie klingt das erstmal sinnvoll.

Wo ist jetzt das Problem?

Allergieentstehung in a nutshell

Eine Allergie bzw. allergische Reaktion ist eine Abwehrreaktion des Körpers auf Fremdeiweiße. Ganz platt gesagt: alles was „organisch“ und nicht „ich“ ist. Wenn wir auf diese Welt kommen, dann kommen wir unweigerlich mit anderen Eiweißen in Kontakt. Daher ist es eine wesentliche Aufgabe unseres Abwehrsystems, die Unterscheidung zwischen „Echter Feind“ und „Nicht ich aber Freund“ zu lernen. Alles was als „Feind“ erkannt wird, löst besagte Abwehrreaktion aus.

Erst- und Folgekontakte

Die Entstehung von Allergien sind vergleichbar mit der Immunantwort und dem „Immungedächtnis“ gegenüber schädlichen Bakterien oder Viren: beim 1. Kontakt – der Sensibilisierung – passiert akut und spürbar noch nicht so viel. Abwehr- und Immunzellen legen sich aber einen „Steckbrief“ des Feindes an, und bilden „Spezialtruppen“ aus: IgE Antikörper. Beim 2. Kontakt sind die IgEs direkt zur Stelle, aktivieren „Mastzellen“, die dadurch Histamin ins System kippen. In anderen Worten: BAM! Es wird voll draufgehauen. Bei Nahrung und Umwelteiweißen aber soll der Körper lernen: „die sind schon voll ok – oder gar lebensnotwendig“. Dabei sind ganz viele unterschiedliche „Zahnrädchen“ beteiligt. Kommt ein Protein immer wieder daher, kann dieses auch näher „kennengelernt“ werden. Folgekontakt als „Allergieprävention“ könnte man sagen.

Nun gibt es eine wichtige Besonderheit: Babys kommen unreif auf die Welt. Das betrifft auch das Immunsystem, das jetzt Gut von Böse unterscheiden muss. Außerdem ist der Darm regelrecht offen für Pathogene & Co. Jetzt kommt die Muttermilch ins Spiel: sie schützt. Und zwar auf vielerlei Art und Weise. Beispiel: Humane Oligosaccharide, die die Schleimhäute auskleiden. Alles was nicht in den Körper gelangen soll, weil es dort Unheil anrichtet, rutscht regelrecht ab, wird eingekesselt und rausbefördert. Ganz weit vorne ist auch das sIgA. Dieser Schleimhautantikörper bekämpft nicht nur Erreger ähnlich wie auch die Oligosaccharide, sondern kommuniziert mit anderen Zellen des Immunsytems und hält so wahrscheinlich und optimalerweise alles im Lot. Das Immunsystem wird außerdem durch sogenannte Cytokine und Chemokine in der Muttermilch reguliert: hier wird die Immunabwehr und das Reifen gepusht. An anderer Stelle wird eine Überreaktion verhindert. Auch absolut artspezifisch wirkt MicroRNA: diese moduliert die DNA vieler Zellen und damit dessen Wachstum und Funktion; unter anderem auch das Immunsystem. Ich lehne mich mal aus dem Fenster: das kann sehr gut auch Einfluss auf den „Allergiearm“ des Immunsystems haben. Fazit: Muttermilch hilft dem Immunsystem, zuzuschlagen und gleichzeitig nicht an falscher Stelle auszurasten. Daher ist es auch schlau, bei Einführung der Beikost weiterzustillen.

Das Baby und die Formula

Damit das kein Roman wird, begrenze ich mich auf die Allergieprävention. Stark vereinfachtes Fallbeispiel: Baby Ben hat an Tag 5 eine derartige Gewichtsabnahme hingelegt (7-10%), dass Zugefüttert werden muss. Was machen wir jetzt? Die Leitlinie sagt: besser keine kuhmilchbasierte Formula. Das wäre dann eine mögliche Sensibilisierung auf Kuhmilcheiweiß, auf die eine ganze Weile keine weitere Exposition folgt. Zusammen mit anderen Faktoren könnte dies „das ist harmlos“ Lernen beeinträchtigen und Zack: starke allergische Reaktion bei Beikostbeginn. Das ist jetzt natürlich ganz bewusst der Teufel, den ich an die Wand male. Im Grunde aber das Motiv: besser keine kuhmilchbasierte Formula. Nur was nehmen wir dann? Schauen wir wieder in die Leitlinie: Aminosäure-Mischungen oder extensiv hydrolysierte Formula, denn HA Nahrung bringt ja laut aktuellen Erkenntnissen nichts.

Problem 1 Spezialnahrung: Theorie vs. Praxis

Diese Spezialnahrung ist schlicht praxisuntauglich. Teuer, schwer zu bekommen, herausfordernd in der Handhabung. Die vorhandenen Produkte sind dazu noch unterschiedlich und sagen wir mal nett „recht unerprobt“. Mit der Gesundheit der Kinder experimentiert man aber nicht. Was in der Theorie also noch nachvollziehbar klingt, ist kein Rat für den praktischen Alltag. ÖGKJ und DGKJ setzen hier genau aus diesen Gründen ihre Kritikpunkte an (https://www.paediatrie.at/images/Referatsleiter/Referat_Ernaehrungskommission/s00112-023-01725-7.pdf)

Die direkte Folge:

Problem 2 Dauerhafte Formulagabe als Lösung?

Kopflose – ich möchte fast schon sagen – Übersprungshandlungen. Die sich aber in Klinikalltag festbeißen. Und auch sonst irgendwie in der „Fachwelt“ ganz üble Kreise annehmen. Wenn keine „gute“ Formula zur Verfügung steht, dann nutzen wir doch einfach das Prinzip der „kontinuierlichen“ Folgeexposition. Anders gesagt: die Babys sollen nicht ausschließlich gestillt werden, sondern weiterhin zusätzlich mit Formula ernährt werden. Der Allergieprävention zu Liebe. Und nein, bitte! Wirklich. Das lässt einfach sämtliche Evidenzen, die das ausschließliche Stillen als das gesundheitserhaltendste Mittel schlechthin belegen außer acht. Die WHO Empfehlung hat ausdrücklich und nach wie vor bestand. Muttermilch ist Goldstandard. Die Studien, die das in unterschiedlichsten Aspekten belegen, füllen allein als Quellenangabe ein ganzes Buch. Es ist mir unbegreiflich, wie man tausende von harten Fakten – wirklich gute, aussagekräftige Studien und Zahlen – fallen lässt und sich scheuklappenartig auf diese eine Schiene der Allergieprävention fokussieren kann. In meinem nächsten Artikel nehme ich diesen Aspekt – was Muttermilch eigentlich alles bewirkt – noch einmal ausführlich auf.

Problem 3 Mangelhafte Belge

Wenn diese Schiene wenigstens fundiert wäre. Das ist sie aber gar nicht so, wie es laut Leitlinie den Anschein hat. Die Art und Weise, wie der Körper Gut und Böse zu unterscheiden lernt, ist komplex. Und eben nicht so plakativ auf die Frage der „Zufütterung“ zu übertragen, wie es hier getan wird. Als Ausgangspunkt für die Vermeidung von kuhmilcheiweißen in den ersten Tagen gilt eine Studie aus Japan, die allerdings viel zu unsauber ist, was die Endaussage/Analyse betrifft. Ich kann das fachlich so einfach nicht unterschreiben.

Als Grundlage für „füttern wir halt Formula weiter“ dient als Ergänzung die COMEET Studie , die ebenfalls viele Mängel aufweist und niemals zu einer derartig weitreichende Empfehlungen führen darf, kann und sollte. Dieses Vorgehen löst bei mir genau die gleichen tiefen Stirnfalten aus, wie die aktuell kursierende Idee, Babys einfach mal von Anfang an Erdnussmus in die Wange zu schmieren – der Allergieprävention wegen. Das geht einfach 100 Schritte zu weit! Die WHO Empfehlung – 6 Monate ausschließlich stillen, dann bis zum 2. Geburtstag und darüber hinaus – ruht auf einem Berg an Evidenzen. Dann kommen zwei, drei halbseidene Studien daher – die mit Sicherheit Grund für mehr Forschung sind – und schon werden die 6 Monate zackig über Bord geworfen. Ich sag’s ja: kopflose Übersprungshandlung.

Lösung: Stillförderung

Was mir am Ende jedoch so richtig die Sprache verschlägt und wirklich sauer macht? Dass sich so viele in die völlig falsche Richtung verrennen. Selbstverständlich schön angefeuert von der Muttermilchersatzindustrie. Die pushen diese „neue Erkenntnis“ natürlich: Formula, löst das Problem der Allergieprävention und lachen sich ins Fäustchen. Ich will nicht wissen, wie viele Milliarden in diese Dreckskampange gesteckt wird. Statt auf diesen Zug ins Nirvana aufzuspringen, sollte man sich fragen: was ist denn die naheliegende, einfachste und gesündeste Lösung?

Die, mit der sich kein Geld „verdienen“ lässt (im Gesundheitssystem hintenraus aber natürlich Unsummen sparen, wenn man es rein monetär sehen will): Muttermilch. Stillförderung. Warum wird denn der eher etwas unglücklichen S3 Leitlinie einfach noch die dauerhafte Formulagabe hinzugedichtet? Was ist denn mit „wehret den Anfängen“?

  • Stillvorbereitung für werdende Eltern, von Kassen bezahlt wie auch die Geburtsvorbereitung
  • Herausfischen von „möglichen Verdächtigen“ wie Schwangere Diabetikerinnen. Also die Fälle, bei denen schon vorher anzunehmen ist, dass die reichliche Milchbildung ein paar Tage später einsetzt. Fit machen in Handgewinnung, ggf. schon vor der Geburt Kolostrum einfrieren
  • Grundsätzlich: Muttermilch gewinnen – mit der Hand, mit der Pumpe – oder wenn das nicht möglich ist, Spenderinnenmilch
  • Um Spenderinnenmilch überhaupt zur Verfügung stehen zu haben: Kliniksinterne Muttermilchbänkchen flächendeckend etablieren. Die begrüßenswerte Frauenmilchbank Initiative unterstützen.

Babyfreundlich und WHO Kodex

Die Liste ließe sich noch lange fortsetzen. Nächster Artikel wie gesagt. Eines fasst in diesem Kontext aber das Wesentliche Zusammen: Krankenhäuser – in denen nach wie vor hauptsächlich geboren wird – babyfreundlich machen! Die WHO/UNICEF-Initiative Babyfreundlich setzt sich genau dafür ein: die Abläufe, Strukturen und Standards für Mama und Kind so verändern, dass das Ankommen auf dieser Welt, der Stillbeginn und das Weiterführen der Stillbeziehung – nach WHO Empfehlung gefördert und geschützt wird. Studien belegen den Effekt ganz deutlich: höhere Stillraten, geringeres „Risiko“ für eine nötige Zufütterung.

Zu guter Letzt: an den WHO Kodex zur Vermarktung von Muttermilchersatzprodukten halten. In diesem Falle: Keine Schulungen von Fachpersonal die in Kontakt mit Familien/Stillenden sind, durch die manipulativen Vertreter der Industrie. Lasst euch da keine Flöhe ins Ohr setzen! Und an alle Familien: pocht auf eure Rechte, pocht auf Unterstützung bei Stillproblemen!

Als Antwort auf die auch bei Eltern oder Kolleg:innen kursierende Verunsicherung in der Frage der Allergieprävention empfehle ich euch allerwärmstens und dringend die Stellungnahme des EISL, die dieses Thema sehr differenziert aufgeschlüsselt haben. Auch die Kritikpunkte zu den Studien ist hier sehr gut und differenziert festgehalten. Ausdrucken und mitgeben, oder verlinken.

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