Abstillen ist kein Tabu
Ich kann dieses erste Bauchgefühl verstehen: wir wollen doch das Stillen fördern, die Stillraten erhöhen und uns gegen den manipulativen Einfluss der Industrie stemmen. Abstillberatung unterminiert die Stillförderung doch?
Nein: Abstillen gehört dazu
Hauptcharakter der Stillberatung ist in jeder Hinsicht die informierte Entscheidungsfindung der Stillenden. Für diese Entscheidung benötigen die Stillenden neutrale, wahrheitsgemäße und umfassende Informationen, sowie eine bei Bedarf begleitende Hand, Ermutigung und Wertschätzung. Störend auf die Stillraten und die individuelle Stilleintscheidung wirkt vor allem eines: die milliardenschwere Muttermilchersatz Industrie, die sich auf allen nur erdenklichen Wegen in unsere Köpfe schleicht. Gezielt, subtil und omnipräsent.
Informationen – durch zertifizierte Stillberaterinnen – sind nicht die Wurzel des Üblen. Sie sind das einzige, mit dem wir den Lobbyisten tagtäglich entgegentreten können. Denn seien wir ehrlich: die Politik tut es nicht. Auch nicht das Gesetz oder die Strukturen des frauen- und kindervernachlässigenden Gesundheitssystems. Das ist unter anderen der Grund, aus dem ich nicht als Ärztin, sondern als IBCLC tätig bin. Das ist der Grund, aus dem ich mein Wissen weitergebe. Das ist mein Motor, der mich den Rest meines Lebens antreiben wird. Meine Unterstützung gehört radikal den Stillenden und den Kindern.
Niemals manipuliere ich. Ich gebe nicht den Ton an und ich entscheide nicht. Ich informiere, ich nenne die Vielzahl an Optionen. Ich begleite Familien bei dem Prozess, die eigene Stimme zu finden. Die eigene Entscheidung zu treffen. Informationen und Hilfe vorzuenthalten, ist Manipulation. Den Zugang zu Angeboten zu limitieren, ist Manipulation. Druck. Bedarf der nunmal da ist, nicht zu decken, lässt den Bedarf nicht verschwinden.
Abstillberatung bedeutet:
Als Ansprechpartner in einer schwierigen Situation da sein und zuhören: was ist los? Wo drückt der Schuh? Was belastet? Was steckt hinter dem Wunsch oder der Vorstellung abstillen zu wollen oder zu müssen?
Informationen geben: Muss überhaupt abgestillt werden? Welche Alternativen gibt es? Steckt etwas ganz anderes hinter der Belastung? Hat es überhaupt etwas mit dem Stillen zu tun?
Unterstützung beim Ausloten bieten: Wie fühlt sich das jetzt an? Wie kann es weitergehen? Welche Bedürfnisse eines jeden Familienmitgliedes wollen berücksichtigt werden? Was überwiegt am Ende?
Die Entscheidung respektieren und bei dem folgenden Prozess fachlich und emotional begleiten. Wie kann das Abstillen für alle Beteiligten möglichst liebevoll geschehen? Wie kann die Stillzeit in guter Erinnerung bleiben, statt in einem abschreckenden Knall zu enden?
Informieren und Begleiten ist niemals Manipulation. Sie sind nichts, wovor wir Angst haben müssen. Informationsfluss ist niemals ein Tabu. Abstillen ist kein Tabu. Jede Stillzeit endet einmal. Wie gut, wenn auch das fachlich kompetent begleitet werden kann. Wenn die Stillzeit nicht negativ in Erinnerung bleibt sondern Vorfreude auf die nächste Stillzeit wecken kann. Abstillberatung ist Teil der Stillförderung.
Gleichzeitig – vielleicht auch wegen des ersten Bauchgefühls- gibt es bisher kaum fachlich aufgearbeitete Information für angehende oder bereites tätige Stillberaterinnen. Ich selbst habe dieses Thema damals in meiner Ausbildung vermisst. Abstillberatung liegt mir daher bis heute nicht. Wie dankbar bin ich, meine Familien an Kolleginnen weiterzuleiten. Wie dankbar bin ich, dass es sowohl für die Familien aber auch für mich nicht mehr schwierig ist, Fachpersonal zu finden, dass das Abstillen hochqualitativ anbietet.
Hilfsangebote generieren hier eben nicht den Bedarf. In der Stillberatung decken die Angebote den Bedarf. Dass der Bedarf in jeglicher Hinsicht die Angebote übersteigt, ist leider noch immer Realität. Ein harter aber wahrer Vergleich: Der Paragraph 219a StGB, der in Deutschland noch bis vor kurzem die „Werbung für den Abbruch der Schwangerschaft verbot. Die Konsequenz: Leid. Frauen, die entgegen ihres Wunsches zur Weiterführung einer Schwangerschaft, Geburt und Mutterschaft gezwungen wurden. Sorge, Druck. Abtreibungen, die irgendwo heimlich, unter unsäglichen Bedingungen durchgeführt werden so wie es in weiten Teilen der USA nun wieder geschieht.
Vorenthalten von Informationen ist Manipulation. Sie nimmt den Frauen das Recht, für sich selbst zu wählen in bestem Wissen und Gewissen. Vorenthalten von Informationen und Beratung unterminiert die selbstbestimmte Entscheidungsfindung. Sie unterminiert die Stillförderung und Frauenrechte.
Abstillberatung ist kein Tabu. Abstillberatung gehört dazu.
