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Notaufnahme – Ausnahmezustand: Ganz verschwindet sie nie, meine Angst.

Nach dem turbulenten Wochenende habe ich wirklich gedacht, wir hätten unser Soll an Kacke für die nächste Zeit abgearbeitet. Vermutlich war unser Weihnachten und Pascals Urlaub in der ersten Januarwoche einfach zu harmonisch für Mrs. Schicksal. So ähnlich wie der Lätzchensack in der Kita, der bereit zum Waschen jeden Freitag eine andere Familie am Kleiderhaken des Kindes erfreut: Ihr seid wieder an der Reihe.

Dank der Unglücksserie, die uns kurz nach Leos Geburt für drei Jahre begleitet hat (ich habe das schon einmal grob hier angerissen) hätte ich es auch eigentlich besser wissen müssen. Diese Jahre haben mich einerseits ängstlicher werden lassen, weil ich erleben musste, dass viele Dinge einfach nicht von uns kontrolliert werden können. Andererseits haben sie mich auch dankbar und demütig gemacht. Bisher sind wir nämlich größtenteils unbeschadet aus jedem Tief wieder emporgeklettert. Ein paar Narben und eine Portion Resilienz reicher. „Et hätt noch immer jot jejange“, würde der Kölner sagen. Dem kann ich mich nicht ganz anschließen. Manchmal, da geht es eben nicht gut aus. Aber was ist eigentlich „gut“?

MONTAG, 21.01.19

Der Mann ist auf der Arbeit, die Kinder spielen in der Kita. Ich widme mich zuhause dem Haushalt, der in den letzen Tagen noch mehr als sonst von uns vernachlässigt wurde, und nutze die Ungestörtheit für ein wenig homeoffice. Mit meiner Konzentration ist es aber nicht so weit her. In der Nacht habe ich immer wieder Szenen von Leos Unfall vor Augen und seine Schreie klingen mir in den Ohren nach. Der Mix aus Ohnmachts- und Schuldgefühlen begleiten mich anfallsartig auch über den Tag hinweg. Ich vermisse meine Familie sehr und bin erleichtert, sie alle am Nachmittag um mich zu haben. Sonst bin ich Montags froh über die Ruhe. Vor allem, weil ich der Typ Mensch bin, der ganz regelmäßig das Alleinsein braucht. Heute fühlt es sich aber nur nach Einsamkeit an.

Noch mehr als sonst genieße ich den familiären Trubel und wir Eltern nutzen die ruhige halbe Stunde (die Kinder schauen Bibi und Tina) um es uns auf der Couch gemütlich zu machen. Mir geht vieles durch den Kopf. Recht unvermittelt -zumindest für Pascal – halte ich seine Hand ganz fest und sage: „Ich will jeden Tag zumindest ein paar Augenblicke so leben, als wäre es mein letzter. Ganz bewusst, voller Liebe.“ Vielleicht schwingt die Stimmung vom Wochenende noch stark mit. Vielleicht hat es etwas damit zu tun, dass in unserem Bekanntenkreis jemand mit einem Hirnaneurysma geschlagen ist. Vielleicht ist es auch ein wenig Vorahnung, die meine Einstellung das Leben zu genießen gerade so sehr zum Top-Thema in meinem Kopf und meinem Herzen werden lässt.

Pascal schaut mich ganz erstaunt an und mir wird wieder bewusst, wie unterschiedlich Männer und Frauen (oder eigentlich jeder Mensch ganz unabhängig vom Geschlecht) die Dinge wahrnehmen und verarbeiten. Besonders die Mutterschaft scheint mich in dieser Hinsicht enorm verändert zu haben. Sie hat sämtliche Mauern abgerissen, die ich in meiner Vergangenheit aufgebaut hatte und viele, viele Schubladen in meinem Kopf der Schlüssellöcher beraubt. Alles steht offen. Meine Gefühle schwimmem immer direkt an der Oberfläche. Ich nehme seit ein paar Jahren jede meiner Eindrücke ganz genau wahr, bin mir jeder Emotion direkt bewusst. Das ist sehr anstrengend, es macht verletzlich und mich persönlich auch wieder ein Stück weit impulsiver. Andererseits profitiere ich langfristig vielleicht davon. Bei mir wird nichts mehr in Kisten gesperrt, wo es vor sich hin köchelt und irgendwann mit aller Macht hervorbricht. Oder mich langsam von Innen auffrisst.

Nach dem Gespräch geht es mir deutlich besser und wir scheinen den Tag recht angenehm beenden zu können. Ella ist anfangs etwas unruhig, schläft neben mir auf der Couch aber schnell wieder ein. Leider hält der entspannte Zustand nicht lange an. Um kurz nach 22 Uhr kommt Pascal aus dem Bad und ich sehe sofort, dass etwas nicht stimmt. Tagsüber hatte er über Kopfschmerzen geklagt, die nach einer großzügigen Dosis Ibu allerdings nachgelassen hatten. Nichts dramatisches, dachten wir. Plötzliche Sehstörungen verschiedenster Art dazu und die Aneurysma- und Tumorerkrankungen aus unserem Umfeld im Hinterkopf, schrillten bei uns die Alarmglocken. Machmal ist es auch ein absoluter Nachteil, wenn man zu viel weiß; zu viele Krankheitsbilder auswendig gelernt und in der Klinik gesehen hat. Aber auch ohne diesen Hintergrund sind akute Sehstörungen niemals auf die leichte Schulter zu nehmen!

Ohne weitere Verzögerung geht es für ihn in die Notaufnahme. Wir sind so durcheinander, dass wir uns nicht einmal richtig verabschieden. Ella neben mir hat von alldem nichts mitbekommen. Leo schläft schon in unserem Familienbett. Für mich ist an Schlaf nicht zu denken. Ich schalte mir irgendeinen vorhersehbaren Film an und warte auf Updates aus der Notaufnahme. Schnell steht fest, dass er auf jeden Fall dort bleiben wird. MRT, Liquorpunktion etc. pp. Irgendwann wird er auf die Neurologie verlegt. Ich ziehe um kurz nach Mitternacht ebenfalls ins Bett um. Wenigstens schlafen die Kinder schnell wieder ein, als sie zwischendurch wach werden. „Wo ist die Papa?“, fragt Ella kurz. „Der ist schon auf der Arbeit“ sage ich. Zum Glück sind die beiden an unregelmäßige Dienste gewohnt. Solange ich nicht mehr weiß, möchte ich die Kinder nicht beunruhigen.

Ich liege äußerlich ruhig im Bett. Die Kinder rechts und links neben mir. Meine Gedanken rasen: Kann ja nicht sein. Darf ja nicht sein. Da ist nichts. Die Sehstörung betrifft alle Quadranten. Beide Augen. Netzhautablösung fällt weg, Tumore oder sonstiger Kram im größten Teil des Hirns fallen weg, sonst würden nicht beide Augen global betroffen sein. Wenn dann ist was am Hinterkopf, wo alles zusammenläuft. Oder Hirndruck. Oder, oder…Kann ja nicht sein. Darf ja nicht sein.

Chaos im Kopf. Angst im Herzen. Manchmal herrscht Stille, immer dann wenn ich alles verdränge.

Irgendwann kommt ein: „MRT scheint unauffällig.“ Das ist gut! Ich dämmere ein. Zwei Stunden. Um 5 Uhr wird Leo wach. Sonst kuschelt er dann immer mit dem Papa im Wohnzimmer. Ich fange ihn direkt ab, gebe ihm seine Flasche Muttermilch. „Der Papa ist schon auf der Arbeit. Alles gut, wir können kuscheln.“ Ich erwarte Prostest. Es kommt aber keiner. Wir bleiben im Bett liegen, neben Ella. Ich halte beide im Arm. Ich halte uns zusammen.

Irgendwann stehe ich mit Leo auf und mache ihm Frühstück, das er im Wohnzimmer essen darf. So kann ich gleichzeitig Sport machen und meinen Adrenalinspiegel ein wenig senken. Weil Ella immernoch schläft, hüpfe ich noch unter die Dusche. Die Routine tut gut, es fühlt sich manchmal sogar wirklich so an, als sei Pascal nur auf der Arbeit. Trotzdem lasse ich die Kinder heute zuhause. Ich möchte sie bei mir haben. Und wer weiß, was noch kommt.

Als Ella wach wird, fragt auch sie als erstes „Wo ist die meine Papa?“. „Der Papa ist schon auf der Arbeit.“ In Wirklichkeit wartet er noch immer auf die Visite. Scheinbar hat auch die Lumpalpunktion nichts ergeben. Ich bin sehr erleichtert. Der Verdacht auf einen Migräneanfall mit Aura verhärtet sich. Eine Untersuchung steht aber noch aus. Dennoch, für mich klingt das schon sehr nach Entwarnung. Wahrscheinlich sind wir heute Mittag wieder zu viert. Die Kälte in meinem Bauch lässt nach. Ich ersetze sie gleich mit der Kälte dort draußen und gehe mit den Kindern einkaufen. Frische Luft. Atmen.

Das Anziehen dauert erwartungsgemäß eine stressige halbe Stunde. Schöner Stress. Familienstress. Mich ganz auf die Kinder einzulassen erdet mich. Ich kann nicht alles kontrollieren, aber ich kann für meine Kinder da sein. Darauf konzentriere ich mich. Zuhause machen wir uns mit den frischen Brötchen ein zweites Frühstück, danach wird gekuschelt und gestillt.

Ich schicke Pascal Fotos, falls er sein Handy anhat. Dem Akku geht langsam die Puste aus. Mir auch. Die Kinder spielen und wir lesen Bücher, allerdings fallen mir so langsam die Augen zu und ich werde zunehmend greizter. „Mäuse, ich bin müde und knatschig.“ Das kennen die beiden von sich und können mein Verhalten einordnen. Es dauert trotzdem noch eine ganze Weile, bis sie freiwillig mit mir ins Bett kommen. Zur gleichen Zeit ist auch die letzte Untersuchung gelaufen, auch die ohne Befund. Pascal darf heim. Ich bin so müde, dass ich mich nicht freuen kann.

Dann geht die Tür, mein Mann kommt rein. Die Kinder hüpfen ihm entgegen, als er sich zu uns ins Bett gesellt. Mein Autopilot schaltet sich ab. Nervous breakdown.

Die Kinder trösten mich sofort, die süßen Mäuse. Pascal hält mich fest. Wir machen ein Höruch an und kurz darauf schlafen wir alle ein. Als ich aufwache, fühle ich mich um Welten besser und mache uns Bolognese. Draußen fängt es an zu schneien. Das erste Mal in diesem Winter.

 

Wir sitzen lange am Tisch. Ich fühle mich noch ein bisschen seltsam. So ist das immer bei mir, wenn etwas Schlimmes passiert. Die Zeit danach fühlt sich dann irgendwie irreal an. Als die Kinder im Bett sind, machen wir es uns zu zweit im Wohnzimmer gemütlich. Machen da weiter, wo wir gestern so abrupt unterbrochen wurden. 24h Außenahmezustand. Einmal durchrütteln. Dankbarkeit und Demut liegen jetzt wieder ganz oben auf dem Wertehaufen. Taten sie vorher auch, jetzt leuchten sie aber noch ein wenig heller.

DIENSTAG, 23.01.19

Pascal ist für den Rest der Woche krankgeschrieben und hat wegen der Lumbalunktion noch Rückenschmerzen. Die Kinder gehen heute wieder in die Kita, wir Eltern tanken Kraft und Ruhe. Bis zum Nachmittag. Da kommt ein Anruf aus der Klinik. Man hätte sich die Bilder nochmal angeschaut und doch noch etwas gefunden. Verdacht auf ein Aneurysma an einer der Halsarterien. Welche genau hat Pascal nicht ganz mitbekommen, aber ein Angio-CT mit Kontrastmittel sollte gemacht werden. Ich fühle mich, als hätte man mich in ein Eisbad getunkt. Mir dreht sich der Magen um und ich renne zur Toilette. Ich will nicht, dass Pascal mich anfasst. Eine Schutzfunktion, denke ich im Nachhinein. Wenn man jemanden so sehr liebt, macht das verdammt verletzlich.

Den Kindern machen wir den Fernseher an. Langsam holt der Verstand meine Gefühle ein. Trotzdem schaue ich Pascal an, als könnte er mir unter den Händen zerbrechen. Die Nacht ist kacke, ich träume sehr schlecht.

MITTWOCH, 24.01.19

Der Termin für das CT ist erst am 15.02. Einerseits gut. Zumindest scheint der Befund nicht allzu akut zu sein. Andererseits bedeutet das ein paar Wochen Ungewissheit. Ändern können wir bis dahin nichts. Wir machen also ganz normal weiter. Heute ist auch meine Angst deutlich kleiner. Mein rationales Denken ist zurück. Ich weiß, dass fast jeder Mensch mit irgendeiner „Anomalie“ herumläuft. Eine der wichtigsten Sätze aus dem Medizinstudium lautet: „Wer suchet, der findet.“ Die technischen Möglichkeiten der modernen Medizin sind Fluch und Segen zugleich.  Und alles, was nicht der Norm entspricht, wird pathologisiert. Eine Untersuchung kann eine Wahre Diagnostikspirale in Gang setzen. Es ist schwer, sich nicht hineinziehen zu lassen. Sich nicht irre machen zu lassen.

Keiner weiß, wie viele Leute mit Gefäß- oder Organanomalien herumlaufen. Keiner weiß, ob sich das überhaupt auf die Lebensdauer oder -qualtität auswirkt. Dazu gibt es einfach keine Studien. Dazu müsste man eine sehr große Anzahl von Menschen komplett durchleuchtet und das eigentlich auch über Generationen hinweg. Welchen Nutzen hätte das und wer würde von so einer Studie profitieren. Wer würde sich als Proband melden? Wer möchte denn einmal komplett auf dem Kopf gestellt werden? Ich nicht.

Ich möchte nicht wissen, was da so in mir „schlummert“. Man würde mit Sicherheit Abweichungen finden. Und dann? Hilft mir das?

Nein.

Wie Eingangs gesagt: Ich lebe jetzt schon ganz bewusst. Ich genieße mein Leben, ich bin dankbar. Ich möchte milde mit mir sein und meinem Körper. Glücklich, für jeden Tag, den ich auf dieser Erde habe. Gesegnet mit meiner Familie. Ich lebe mein Leben. Ich möchte Vertrauen.

Meine Angst vor Pascals CT bleibt dennoch im Hinterkopf. Aber sie ist kleiner geworden. Ganz verschwindet sie ohnehin nie, meine Angst. Weil ich liebe. Unendlich liebe. Das ist „gut“!

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